Unsere künstlerische Leiterin Genia Gütter hat sich „Les Misérables“ von Victor Hugo vorgenommen und die dramaturgische Fassung geschrieben. Nachfolgend erzählt sie, was ihr das Stück bedeutet, wo die größten Herausforderungen lagen und warum sie den Schriftsteller Victor Hugo einen Platz in dem Stück eingeräumt hat.
1.Wir haben im Verein schon länger darüber gesprochen, „Les Miserables“ zu spielen. Was bedeutet das Stück für Dich?
Genia Gütter: „Les Misérables“ ist eines der Werke der großen französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts, die ich schon immer sehr gemocht habe. Hier verbindet sich Gesellschaftskritik mit lebendigen Figuren und einer spannenden Handlung. Hugo und Dumas sind da ähnlich wie in England Dickens, Hardy und Collins. Die Romane dieser Autoren wie eben Les Misérable, Der Graf von Monte Christo, David Copperfield oder Tess schreien geradezu danach, auf die Bühne gebracht zu werden. Das große Problem ist die Vielzahl der Charaktere und Spielorte und die oftmals Jahrzehnte umspannende Handlung. Außerdem braucht man dazu ein versiertes Ensemble, das sich den Herausforderungen dieser vielschichtigen Figuren stellen kann. Wir haben das Glück, genau ein solches Ensemble zu haben.
2. Was war die größte Herausforderung beim Schreiben des Stückes?
Genia Gütter: Wie ich schon eben sagte, lag eine der großen Herausforderungen darin, die komplexe Handlung, die sich letztlich im Roman über drei Jahrzehnte erstreckt, so weit zu reduzieren, dass es auf einer Bühne und an einem Theaterabend realisierbar ist, ohne dabei zu sehr zu verflachen. Wenn man einen Roman sehr ‚lieb gewonnen“ hat, ist es schwer, die Schere anzusetzen und Szene herauszunehmen, Handlungsstränge zu verbinden, Figuren auszulassen oder deren Vorgeschichte auszublenden. Darin lag die große Schwierigkeit, weshalb ich mich hauptsächlich auf die Figuren Valjean und Javert konzentriert habe. Die anderen Figuren passieren das Leben dieser beiden Protagonisten. Und so geht es ja schließlich uns allen: Menschen begegnen uns, werden eine Weile wichtig für uns, verschwinden wieder aus unserem Leben. Es gibt allerdings einige Konstanten. Und bei Jean Valjean ist die wichtigste Konstante in seinem Leben eigentlich sein Widersacher Javert. Insgesamt hat mir die Arbeit an dem Theaterstück sehr viel Freude bereitet.
3. Welches ist dein Lieblingscharakter? Welcher Charakter ging dir am schwierigsten aus der Feder?
Genia Gütter: Einen Lieblingscharakter habe ich eigentlich nicht. Natürlich habe ich riesige Sympathien für Valjean und Fantine bemitleide ich sehr.Und auch die idealistischen Studenten finde ich toll. Aber sogar Figuren wie die beiden Theanrdiers, die ja eigentlich eher unangenehme Charaktere sind, habe ich ins Herz geschlossen. Mir ist auch aufgefallen, dass ich zu den Figuren während der Probenarbeit dann noch einmal einen anderen Bezug bekommen habe, einfach, weil die Darsteller sie mit ihrer eigenen Interpretation zu einem ganz eigenen Leben erweckten.
Ein wenig schwer tat ich mich mit Inspector Javert, diesem so kalten und unversöhnlichen Mann, der selbst eine schreckliche Kindheit hinter sich hat und letztendlich von Valjean moralisch „entwaffnet“ wird. Sein Ende ist folgerichtig, doch eigentlich nehme ich es ihm ein wenig übel. Gerade in seiner Vielschichtigkeit liegt das Problem. Er ist ja eigentlich nicht böse oder anders ausgedrückt: Er handelt „nur“ nach dem Gesetz. Sind seine Handlungen also herzlos und brutal, so deshalb, weil er ein treuer Erfüllungsgehilfe der Obrigkeit ist. Das haben wir in der Geschichte schon häufig erlebt und das macht solche Menschen so schrecklich.
4. Victor Hugo ein Teil des Stückes ist eine interessante Umsetzung. Was hat dich dazu bewogen, ihn als Erzähler mit zu integrieren?
Genia Gütter: Victor Hugo als Erzähler zu integrieren hat dramaturgisch den Sinn, Handlungssprünge für den Zuschauer inhaltlich nachvollziehbar zu machen. Warum lebt die kleine Cosette bei den fremden Wirtsleuten? Was passierte mit Valjean, nachdem er dem Schornsteinfegerjungen das Geldstück gestohlen hat? Das zu erklären, brauchte der Autor viele viele Seiten. Ein Erzähler kann da mit wenigen Sätzen den Zuschauer „auf Stand“ bringen. Aber es gab auch einen wichtigen inhaltlichen Punkt, Victor Hugo höchstselbst erscheinen zu lassen: Les Misérables ist so angelegt, dass man als Leser deutlich merkt, wie sehr der Autor Anteil an dem Schicksal seiner Figuren nimmt. Hugo war ein politischer Mensch und er mischte sich ein. Er sagte, was er dachte und bezog Stellung. Das wollte ich durch die Figur des Voctor Hugo unterstreichen. Deshalb lasse ich ihn auch die „vierte Wand“ durchbrechen, d.h. mit dem Publikum interagieren, und deshalb nimmt er auch teilweise Kontakt zu den Figuren auf der Bühne auf, die er geschaffen hat.